Aber die Gletscher haben nicht nur ein bratwurstförmiges Tal hinterlassen, sondern auch die beste Wohnlage in St. Gallen: Auf dem Molassehaufen des Südhangs, des Rosenbergs, teilen sich heute die weltberühmte Universität und ihre Abgänger die Aussicht. Und auch das Kloster hat mit seinem Idealplan und der Stiftsbibliothek den Weg in die Architekturgeschichte geschafft. Wer da zur Schule ging, kennt die tausend Treppenstufen an den Hängen. Kein Turnlehrer lässt es sich nehmen, seine Schützlinge dort hinauf- und wieder herunterzujagen. Erzogen durch die Kombination von Hügellandschaft und sportlicher Ertüchtigung gelten die St. Galler als fleissig, bescheiden und zuverlässig. Und sie haben den Ehrgeiz, immer wieder oben anzukommen. Sind die Treppen der Erfolgsfaktor der Universität?
Der Flaneur findet hier Möglichkeiten, die kaum eine andere Stadt zu bieten hat. Nicht an den Ufern eines Flusses und auch nicht entlang der Einkaufspassagen, sondern entlang der Höhenlinien. An beiden Flanken zieht sich ein Netz von Strassen und Wegen durch die Quartiere, die parallel zum Tal verlaufen und immer wieder mit Treppen mit dem Talboden verbunden sind. Die Bewohnerinnen und Bewohner könnten sich ein Spiel daraus machen und jeden Tag auf einem anderen Weg zur Arbeit oder nach Hause gehen. Studien besagen, dass Letzteres eine Quelle zum Glück ist. Vielleicht wirkt sich dies in Zukunft mildernd auf die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts aus. Seine Angestellten werden dereinst von ihrem Wirkungsort bis zum Wildpark eine durchgehende grüne Ader vorfinden, die den ganzen Sonnenhang überspannt.
Von praktisch jedem Punkt der Stadt aus führen Treppen auf einen der grünen Hügel und eröffnen oben die Aussicht auf Säntis oder Bodensee — und an einigen Stellen auf beides zugleich. Das Stadtmarketing hatte dieses Potenzial in den Siebzigerjahren erkannt und das Bild der «Stadt im Grünen Ring» kreiert. Der Slogan ist inzwischen aber ziemlich abgegriffen. Immerhin macht der Blick vom Dach des kürzlich renovierten Rathauses klar, wie er gemeint war. Doch wie überall muss der grüne Gürtel um die Stadt gegen den Siedlungsdruck verteidigt werden, und jede Zonenplanrevision zwackt diesem Ring wieder einen Teil ab.
Nachdem St. Gallen lange Zeit schrumpfte und substanzielle Teile seiner Bevölkerung abwanderten, hat der Trend nun gedreht. Das Angebot der achtgrössten Schweizer Stadt zieht wieder Leute aus der Agglomeration an. Da ein Wachstum in die Breite nicht möglich und in die Länge nicht attraktiv ist, entstehen viele Projekte rund ums Zentrum. Die Bevölkerung rückt zusammen, St. Gallen wird städtischer.
Auch wenn der Vergleich mit den Metropolen dieser Welt sonst ernüchternd ausfällt: In seiner Länge übertrifft St. Gallen mit zwölf Kilometern sogar den Durchmesser des Zentrums von Paris. Zu Fuss eine ziemliche Strecke, zumal die Ausfallstrassen keine Boulevards sind, sondern Verkehrsadern, an denen sich Matratzenshops, exotische Lebensmittelläden und Autohändler angesiedelt haben. Zudem ist das Tal wirklich eng. Auf Höhe des Bahnhofs drängen sich neben den Hauptstrassen auch noch die Schienen der SBB und der Appenzeller Bahnen hindurch. Schwärme von Bussen fahren Stossstange an Stossstange durchs Zentrum, bevor sie sich in die Quartiere verteilen.
Verkehrstechnisch ist St. Gallen wegen seiner Topografie eine Herausforderung. Alle und alles scheinen immer gleichzeitig auf denselben Wegen unterwegs zu sein. Allein durch die Poststrasse verkehren jeden Tag 700 Busse. Diese Hauptverbindung vom Bahnhof zur Altstadt erhält gerade den letzten Schliff in der Umwandlung zu einer unregelmässig angelegten Allee. An ihrem Ende steht in einem kleinen Park der Brunnen von Roman Signer, das aufgeständerte rote Fass, aus dem Wasser plätschert. Die Proteststürme nach seiner Einweihung sind längst verebbt, und Signer ist vom belächelten Aussenseiter zum gefeierten Künstler aufgestiegen. Lange bestand die St. Galler Identität aus dem Dreiklang von Stickerei, Stiftsbezirk und Bratwurst. Mittlerweile kann Pipilotti Rist sogar die Strassen eines ganzen Quartiers mit rotem Tartan überziehen.
Die städtischen Grünflächen erzählen ihre eigenen Geschichten. Im Klosterhof tummeln sich im Schatten der Kathedrale Jugendliche und Touristen, während im Park der Kantonsschule, keine 500 Meter entfernt, die Alkohol- und Drogenabhängigen ihren täglichen Kampf durchstehen. Die grünen Räume der Stadt sind der Stickerei geschuldet. Als St. Gallen noch eine textile Grossmacht war, leisteten sich die Bürger den Stadtpark mit der Museumslandschaft in einem gepflegten englischen Park und machten aus dem Unteren Brühl einen Vorgarten für die Tonhalle, dem Raderschall Landschaftsarchitekten inzwischen ein neues Gesicht gegeben haben. Die Geschäftsbeziehungen in alle Welt hatten schon früh den Geschmack kultiviert. Wo als letzte Ergänzung in den Sechzigerjahren das Stadttheater von Claude Paillard entstand, wird nun das Scharnier zwischen den beiden Freiflächen neu gestaltet. Der Wettbewerb für den «Kulturplatz» soll die Bauten aus verschiedenen Epochen besser miteinander verbinden.
Auch die Fertigung der berühmten Stoffe hat ihre grünen Spuren in der Stadt hinterlassen. Die grossen Felder, auf denen die Leintücher gebleicht und getrocknet wurden, sind längst Teil der Stadt geworden. Ein Richtplan für die Vernetzung jener Freiflächen, die von damals übrig geblieben sind, liegt vor, und bei jeder Gelegenheit wird ein Puzzleteil hinzugefügt. Das Ziel ist eine durchgehende Verbindung vom Burgweiher bis zur Kreuzbleiche, wo sich die Architekten der Stadt jeden Montag zum Fussball treffen.
Der Mönch ist damals sicher von Osten her ins Tal eingewandert. Zum Bodensee hin ist die Landschaft weit und offen. Und im Westen hat die Sitter quer zum Haupttal eine tiefe Furche gefressen. Auch wenn das Sittertobel mit seinen steilen Hängen in erster Linie ein topografisches Hindernis bildet, so hat die Stadt ihm doch Einiges zu verdanken. Dort wird die Nutzung der Geothermie erprobt, und dank der Giesserei im Sittertobel gehört St. Gallen zu den ersten Adressen für das Handwerk der Kunst.
An der Sitter findet aber auch das Openair statt, und nicht zuletzt entstanden da Pionierleistungen im Brückenbau. Von der «Hüslibrücke» von Hans Ulrich Grubenmann und der filigranen Stahlkonstruktion der «Ganggelibrugg» bis hin zu den imposanten Sitterviadukten der Eisenbahnen: Der Weg durch das Tobel führt an 18 Brücken vorbei. Auch diese Bauwerke sind ein Erbe der Stickereiblüte. Und wenn die Brücken nicht wären, würden wohl noch viel mehr Zürcher denken, die Schweiz höre hinter Winterthur auf.