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TxT · № 17

Seit 1990 arbeitet das Wohnforum der ETH Zürich an einer Kartografie des Wohnens in der Schweiz. Das interdisziplinäre Team hinterfragt in empirischer Forschung die Zusammenhänge zwischen Architektur und sozio-demografischen Veränderungen sowie den Einfluss sich wandelnder Lebensweisen auf Erstellung, Nutzung und Bewirtschaftung von Wohnungen. Nach Zürich und Bern war es nun an Basel, sich im Rahmen der Veranstaltungsreihe zu präsentieren.




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archithese
Juli 2004
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Stand der Dinge - Wohnen in Basel

Unter dem Titel “Stand der Dinge: Wohnen in Basel“ hat das Wohnforum vom 20. August bis 3. September den Status Quo und neueste Tendenzen zum Wohnen in Basel zusammengetragen. Es war erklärtes Ziel der Ausstellungsmacher, die Resultate der Forschung einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und Diskussionen auszulösen. Die Ausstellung in der Markthalle war dominiert von den zahlreichen Wohnbauprojekte, die gegenwärtig geplant oder bereits realisiert werden. Zusätzlich zum dichten Veranstaltungskalender wurden auch studentische Arbeiten, Städteplanerische Aktivitäten und Projekte zur Umnutzung der Markthalle vorgestellt. An einem prominent besetzten Symposium diskutierten Fachleute neue Strategien, Entwicklungen und räumliche Expansionsmöglichkeiten des traditionellen Städtebaus und der Wohnbaupolitik im Wandel der Gesellschaft.

Wachsen im Korsett

Aus der Luft betrachtet erscheint Basel als eine zusammenhängende Stadt mit respektablen Ausmassen: eine gewöhnliche Siedlung mit ausgeprägtem Zentrum und weit reichender Agglomeration. Einzig das charakteristische Knie des Rheins spaltet die Stadt in zwei Hälften. Zurück auf dem Boden erweist sich die vermeintliche Einheit aber schnell politisch als äusserst feingliedrig und heterogen. Was von weitem betrachtet wie eine Strasse aussieht, entpuppt sich aus der Nähe als rue, und die Häuser auf der gegenüberliegenden Strassenseite können auch mal in einem anderen Kanton stehen. Auf den ersten Blick scheinen diese Grenzen für die Entwicklung Basels nicht von vitaler Bedeutung zu sein. Die Stadt wächst ungeachtet der hoheitsrechtliehen Unterschiede über die Trennlinien hinweg, jeweils unter anderem Namen.

Genauer betrachtet kommen aber etliche Probleme zum Vorschein, welche durch die Trennung der Wirtschaftszone in verschiedene politische Einheiten entstehen. Hansjörg Blöchlinger, stellvertretender Direktor des BAK Basel Economy, sieht denn auch in dieser Fragmentierung das grösste Problem der Stadtentwicklung. Selbst wenn in Statistiken Basel als die produktivste Metropolitanregion der Schweiz erscheint, so handelt es sich bloss um eine Spiegelung der Tatsache, dass das Geld zwar in der Stadt generiert, oft aber ausserhalb des Stadtkantons versteuert wird. Wirtschaftliche und politische Struktur stimmen nicht mehr überein. Somit profitiert die Agglomeration von der Wirtschaftskraft des Zentrums, das vom politischen Diskurs der umliegenden Gemeinden weitgehend ausgeschlossen ist. Die Entscheidungswege sind, so sie überhaupt über die Grenze hinweg koordiniert werden, lang und ineffizient. Zu dieser spezifischen, trinationalen Grenzsituation kommen wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen hinzu, welche die Städte generell geprägt haben. Der gestiegene Anspruch der Bewohner an Komfort und Wohnfläche hat auch in Basel seit den Siebzigerjahren eine konstante Abwanderung aus der Stadt bewirkt. Steuerkräftige Familien sind vor den urbanen Problemen in den grünen Gürtel der Agglomeration geflüchtet. Rigide Grundrisse und tendenziell veraltete, kleine Wohnungen konnten trotz des relativ hohen Leerwohnungsbestandes der Konkurrenz des Einfamilienhauses mit Umschwung nicht standhalten. Die Abwanderung zog einen enormen Verkehrszuwachs und Steuerverlust nach sich , was wiederum das Leben in der Stadt beeinträchtigte. Und obwohl Basel eine lange Tradition als Aufnahmekanton von Gastarbeitern aufweist, deren Kulturen bisher erfolgreich integriert wurden, findet in gewissen Quartieren eine zunehmende soziale Entflechtung statt.

Die Wiederentdeckung des Städtischen

Die Stadt Basel reagierte bereits Ende des letzten Jahrzehnts auf diese Herausforderungen. Aus dem 1997 begonnenen Projekt “Werkstadt Basel’‘, mit dem der Regierungsrat durch einen partizipatorischen Prozess die Wohnqualität in der Stadt verbessern wollte, hat sich das Aktionsprogramm “Stadtentwicklung Basel” herausgebildet. Das wichtigste Ziel des Programms besteht darin, die Bevölkerungsentwicklung und –zusammensetzung zu stabilisieren, den Abwanderungstrend in die Regionen zu brechen und somit die Steuerertragskraft von natürlichen Personen zu sichern. Drei Massnahmenpakete wurden beschlossen: die Aufwertung des Rheins, die Wohnumfeldaufwertung (Massnahmen zur Aufwertung von Quartieren) und 5000 neue, attraktive Wohnungen innerhalb von zehn Jahren. Hinzu kommt, dass die Nordtangente ganze Strassenzüge vom Durchgangsverkehr befreien und als Wohngegenden aufwerten wird. Die Umsetzung des ehrgeizigen Wohnbauprogramms wurde der neu gegründeten Organisation Logis Bâle anvertraut. Das Angebot im Segment der grossen Wohnungen mit guter Qualität soll merklich verbessert werden. Die Modernisierung aller Wohnliegenschaften wird durch eine Erhöhung der Investitionen im Bereich des Liegenschaftsunterhalts und der Erneuerung angestrebt, und generell soll der Standard der Wohnqualität im Kanton Basel-Stadt ansteigen.

Die 5000 neuen Wohnungen sollen bis 2009 bereit stehen. Da die politischen Grenzen das Wachstum der Stadt nach aussen verhindern, werden verschiedene Strategien verfolgt, die Wohnsituation innerhalb des Stadtkantons zu verbessern. Industriebrachen und leerstehende Gewerbebauten sollen umgenutzt, Wohnungen zusammengelegt, Innenhöfe von Blockrandbebauungen nachverdichtet sowie zahlreiche Neubauten erstellt werden. Durch diese Massnahmen wollen die Stadtplaner dem Wohnungsmangel für Familien nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ begegnen. Neben mehreren kleineren Um- und Neubauten sind es insbesondere spektakuläre Grossprojekte, welche die Dynamik dieser Entwicklung aufzeigen. Unter dem Namen “Erlenmatt” ist auf dem ehemaligen Güterbahnhof der Deutschen Bahn ein enormes Bauvolumen vorgesehen. Nach dem siegreichen Bebauungsplan von Ernst Niklaus Fausch wird sukzessive eine gemischt genutzte Siedlung mit 800 Wohneinheiten entstehen. Im Gundeliquartier, in direkter Nachbarschaft zur Bahnhofspassage, sind im Südpark von Herzog & de Meuron etwa 180 Wohneinheiten geplant. In der Nähe zum “Campus des Wissens” von Novartis sieht die Initiative “Pro Volta” 200 Wohneinheiten auf der gigantischen Baustelle der Nordtangente vor.

All diese Projekte sollen das Wohnen im städtischen Umfeld wieder interessant machen. Dabei werden Dichte und Nähe zu den Nachbarbauten durch attraktive Aussenräume und grosszügige Grundrisse wettgemacht, die sich dank neutraler Räume flexibel nutzen lassen. Die architektonische Qualität ist der entscheidende Faktor im Werben um die Familien. Veränderte und hochindividualisierte Lebensformen stellen die Planer vor grosse Herausforderungen. Der “Normalgrundriss” kann keine befriedigenden Antworten auf flexible Familien- und Arbeitsstrukturen liefern, und selbst in einem dichten Innenhof wird ein privater Aussenraum erwartet. Die präsentierten Projekte sind sich dieser Ansprüche bewusst: Sie zeigen intelligente und sensible Lösungen für ein neues städtisches Wohnen.

Soziale und wirtschaftliche Entmischung

Das Symposium betrachtete die Zukunft der Stadt unter wirtschaftlichen und sozio-geografischen Gesichtspunkten. Die zunehmende Deindustrialisierung und der Übergang zur Wissensgesellschaft verlagern die traditionellen, standardisierten Arbeitsplätze der Industrie immer weiter in die Agglomeration hinaus. An ihrer Stelle siedeln sich in den Zentren immer mehr die Zweige Wissen, Kultur sowie Erziehen-Ausbilden an. Dieter Läpple von der TU Hamburg-Harburg sieht die Stadt der Zukunft als Begegnungsort der Wissensträger, als Labor der Arbeits- und Wohnformen, das eng an die Dynamik der Städte gebunden ist. Daraus werde sich eine polare Struktur ergeben, in deren Zentrum ein quirliger Arbeitsmarkt für Hochqualifizierte steht, umgeben von einem Ring von standardisierter Industrie. Nach einer Phase der Stadtflucht werden sich, dank der Bedeutung der zwischenmenschlichen Begegnung für die tacit knowledge, welche in den Köpfen steckt und nur durch direkten Kontakt ausgetauscht werden kann, die Städte wieder als Gravitationszentren etablieren.

Wie Dieter Läpple sieht auch Hartmut Häussermann von der Humboldt-Universität in Berlin die grösste Herausforderung der Zukunft im Nebeneinander verschiedener sozialer Schichten und ihrem Zugang zu Wissen. Der Stadt- und Regionalsoziologe hinterfragt das kulturelle und ethnische Mit- und Nebeneinander in den Städten. Seine Untersuchung zu sozialräumlicher Verteilung und Struktur von Siedlungen stellt eine zunehmende Entmischung fest. Es entstehen dabei ethnische Kolonien und Parallelgesellschaften, die sich immer weiter vom Ziel der sozial durchmischten Städte entfernen. Häussermann postuliert, dass sich die Stadtplaner mit dieser Realität abfinden. Statt der räumlichen Durchmischung sind gleiche Bildungschancen für alle Bevölkerungsschichten anzustreben.

Visionen für die Region

Die architektonische Vision für Basel wurde von Jacques Herzog präsentiert. Als Sohn dieser Stadt ist er schon von klein auf mit ihren Besonderheiten und Eigenarten vertraut. Die vielfältigen politischen und geografischen Grenzen haben für die Lebensrealität der Bewohner eine eminente Bedeutung. Die Aufteilung in Klein- und Grossbasel, die räumliche Nähe und gleichzeitige politische Trennung zu den umliegenden Ländern und Kantonen hat über die Jahre Realitäten geschaffen, die nicht mehr dem Leben und den Zusammenhängen in der Stadt entsprechen. An diesen Nahtstellen sind Blockaden entstanden, welche eine Entwicklung verhindern. Nach Herzog sind es genau diese Zonen , welche das grösste Potenzial in sich tragen.

Die Planung im Dreispitzareal, deren Auftakt das Schaulager bildet, ist über die Kantonsgrenze hinweg gedacht und verzahnt die beiden Regionen. Ebenso machen die Gedanken einer Erweiterung und Anbindung Richtung St. Louis nicht an der Landesgrenze Halt. Eine regional orientierte S-Bahn könnte auf einfache Weise die Wahrnehmung und Vernetzung der Bevölkerung nachhaltig ändern, was Dietmar Eberle, Leiter des Wohnforums, aufgrund eigener Erfahrungen in Vorarlberg bestätigte. So würden Architektur und Städtebau zu einem Motor der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der trinationalen Metropolitanregion Basel werden. Die Überwindung der Grenzen und die Orientierung zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum Basel prägen die Region bereits seit langer Zeit. Die visionären architektonischen Projekte sprengen sowohl die Blockaden in den Städten und Köpfen als auch diejenigen an den Grenzen. Durch Attraktivität und Unvoreingenommenheit soll eine neue Identität für die ganze Region entstehen.

Wie fragil dieser Prozess im Moment noch ist, zeigen die verschärften Grenzkontrollen der deutschen Beamten vom März diesen Jahres, die der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze vermutlich noch für längere Zeit in Erinnerung bleiben werden. Das Wohnforum hat mit seiner Ausstellung den dynamischen Prozess des Wohnbaus in Basel breit dokumentiert und einen interessanten Ausblick geschaffen. Die Markthalle selbst stand als magischer Ort ihrerseits stellvertretend für den Umbruch in Basel. Mit den Forschungsresultaten, den Projekten und Veranstaltungen konnte ein weiteres wichtiges Puzzleteil zum Gesamtbild der schweizerischen Wohnsituation hinzugefügt werden.


Marko Sauer am, 11 01 2013

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